Ja, flieg Vögelchen, flieg endlich - flieg gen Osten dem Sonnenaufgang zu.
24. Februar 2023
nach der gewissheit, vor der paranoia
"Daran: dass die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen."
Friedrich Nietzsche: Die Fröhliche Wissenschaft; Frankfurt/M. 1982 (1882); S. 169 (§ 269)
Ja, flieg Vögelchen, flieg endlich - flieg gen Osten dem Sonnenaufgang zu.
24. Februar 2023
Es ist traurig, wenn man immer so negativ gestimmt ist. Ja, die Zeiten geben das Negativ-Sein her. Aber permanent das Glas halb leer sehen, darüber spekulieren, wann die Ökonomie, das Klima, die Natur, die Rente, die Gesellschaft, die (eigene) Gesundheit auseinanderbricht (bald schon, bald ...), sich in den Vorhöfen dunkler Depressionen herumzuschleichen - nein, das ist auf Dauer kein Leben, auch wenn man natürlich in Betracht ziehen muss, dass jedes Leiden ganz untergründig einen lustvollen Mehrwert abwirft. Aber, nochmals aber: wie soll sich etwas zum Positiven wenden, wenn man nicht selbst positiv ist und / oder etwas Positives beiträgt. Und ist es nicht schon seit langem bekannt, dass die positive (Selbst)Verstärkung im Sinne einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung zu fabelhaften Resultaten führt, sagen wir: führen kann. Das vorm Spiegel schnell hergesagte "Ich bin schön, klug und erfolgreich" ist auch unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten fast unschlagbar, selbst wenn der gewünschte Effekt nicht, oder nicht sogleich, oder nur in äußerst kleinen Dosen eintreten sollte.
Jedoch hat ein sich so inszenierter selbsterfüllender Zauber es nicht leicht auf und in dieser Welt, steht doch das Positive, das Geglückte, das Schöne und insbesondere das Heile oftmals unter Kitsch-Verdacht, was auch heißt, dass die sich dazu bekennenden Anhänger oftmals nicht als Heroen der Kultur gelten, sondern eher als Menschen gesehen werden, die - wie eine Bekannte formulierte - ein Mallorca-Gehirn ihr eigen nennen können, was man falsch verstehen würde, so man es als Kompliment auffasst. Die individuelle Glückssuggestion stößt an ihre Grenzen, so man nicht davon ausgehen kann, dass die sprießenden Blüten des eigenen Glücks das Mullah-Regime zum Abdanken bringen, Putin veranlasst den Krieg zu beenden, China zu demokratischen Wahlen animiert und das Klima zu einem spontanen CO2-Reduktionswunder. Ganz dialektisch wirkt der Weltenlauf eben - mal mehr, mal weniger - auf das eigene Schicksal durchaus wirkungsmächtig zurück, während umgekehrt der eigene Beitrag zu einer glücklichen Welt nur schwer einzuschätzen ist.
Auf Seiten der Kultur lassen sich daher insgesamt nur wenige Beispiele anführen, die vorbehaltslos für ein positives Denken antreten. Selbst dort wo dies geschieht, ist ein ironischer Unterton selten zu überhören, wie beispielsweise bei jenem 'An einen Pessimisten' gerichtete Heinz Erhardt-Gedicht, das zunächst bei den Lämmern auf der Weide eine Fröhlichkeit vor dem Schlachten konstatiert, um damit zu schließen, dass es auch ziemlich dumm wäre, wollten die Lämmer erst hinterher fröhlich sein. Aber wer will schon als glückliches Lamm oder als glücklicher Idiot anfangen oder enden? Viel näher liegt uns der Shakespeare-Schlachtruf aus dem Munde von Hamlet: "Die Zeit ist aus den Fugen: Schmach und Gram, / Dass ich zur Welt, sie einzurichten, kam!"
Auch Arno Schmidt, der heute Geburtstag hat - oder gehabt hätte - d.h. am 18. Januar 2023 wäre er 108 Jahre alt geworden, Glückwunsch -, ist durchaus skeptisch, was das Glücksversprechen des Lebens angeht. In seiner 1946 entstandenen Erzählung 'Leviathan oder Die beste der Welten' - in der er aus der Sicht eines deutschen Soldaten eine Bahnfahrt im Februar 1945 schildert = Flucht, Chaos, Hunger, Zerstörung, NS-Diktatur, Tod - steht gar die ganze Schöpfung auf dem Prüfstand:
"Diese Welt ist etwas, das besser nicht wäre; wer anders sagt, der lügt!"
Arno Schmidt: Arno: Leviathan oder Die beste der Welten, in: Enthymesis Leviathan Gadir. Bargfelder Ausgabe. 01 I, Romane, Erzählungen, Gedichte, Juvenilia, 1.1. Zürich: Haffmanns, 1987, S 48
Schwerlich wird man bei Arno Schmidt im weiteren Schaffensverlauf eine heile Welt finden. Vielmehr erschließen sich die Dinge durch ihre Ambivalenz, was heißt: ein halbleeres Glas beinhaltet immerhin noch Flüssigkeit. Auf Fauna und Flora gewendet, etwa so:
“Kühe in Halbtrauer, zwischen
Arno Schmidt: Kühe in Halbtrauer; in: Ländliche Erzählungen; Bargfeld 1987 (1964); S. 341
Nun gut, beim 'Porst' handelt es sich um ein Heidekrautgewächs, deren Blätter leicht giftig sind, und die 'verdorrten Sumpf=birken' wissen das Gemüt gewiss nicht aufzuheitern. Aber: die Kühe sind nur halbtraurig. Und, so die Vermutung: nur weil die Farbe Weiß nach allgemeiner Konvention nicht umstandslos der Fröhlichkeit zuzuordnen ist, sprechen wir hier nicht von Kühen in Halbfreude. Sonst könnten wir die schwarz-weiß gemusterten Milchkühe auch als ein Zeichen des Glücks lesen, zur Hälfte. Es sind auch die kleinen Dinge im Leben, die zählen. Nicht immer nur schwarzsehen.
18. Januar 2023
Vieles ist über dieses Jahr gesagt worden. Ein schlimmes Jahr: Corona, Krieg, Energiekrise, Klimawandel, Fluten in Pakistan, Inflation, staatlich beauftragte Morde im Iran, Messerattentat auf Salman Rushdie ... Zuversicht grenzt an Naivität, so man prognostiziert, dass das nächste Jahr bestimmt besser wird. Umgekehrt besteht der Verdacht, dass wir vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft auf dieses Jahr zurückblicken und uns liebevoll an die Endphase der guten, alten Zeit erinnern werden. Das Weltschicksal mischt sich energisch in unsere privaten Angelegenheiten, während wir ohnmächtig dem großen Treiben zusehen. Der berühmte Shakespeare-Satz "Die Zeit ist aus den Fugen", bewahrheitet sich in seiner vollen Wucht, wobei man gerne vergisst, dass er oftmals auch in anderen Büchern zu anderen Zeiten herbeizitiert worden ist. Nicht zu unterschlagen ist die darauffolgende Hamletsche Klage, die da lautet: "Schmach und Gram, Daß ich zur Welt, sie einzurichten kam!" So stehen auch wir vor einer Aufgabe und wissen nicht, an welchem klitzekleinen Ende wir den Problemfaden aufzurollen beginnen sollen.
Aber: neigen sich die Aktivitätszeiten dem Ende entgegen? Haben uns unsere Bewegungsmuster - nach vorne gehen, Wachstum generieren, proaktives Problemlösen - nicht zuverlässig an jenen Rand geführt, dessen Überschreitung keineswegs mehr als Verheißung gesehen werden kann? Das populäre Denken, oftmals unterschätzt und oftmals am Puls der Zeit, hat diese Einsicht schon längst mit einem Witz bedacht: Gestern standen wir noch vor dem Abgrund, heute sind wir schon einen Schritt weiter. Zeit das Resilienz-Zeitalter auszurufen? Statt der Welt und den Menschen noch etwas zuzufügen oder hinzuzufügen, gilt nun die Tugend des Ertragens, vorzugsweise den Schmerz oder auch sonstige Unbillen des Lebens. Noch sträubt man sich dagegen, sich als ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank zu sehen, das psychisch, dank Resilienz, dann doch gut aus der Sache herauskommt, nachdem es blökend feststellt, dass es vorerst nur geschoren und noch nicht geschlachtet wurde. Aber vielleicht ist es trotzdem besser, wie es in einem Film nach einem Don DeLillo-Roman heißt, (metaphorisch) auf der Seite der Sterber und nicht der der Töter zu stehen. Und wie immer, wenn es darum geht, sich mit den Implikationen einer kantschen Moral zu konfrontieren, ist der Ausweg kein einfacher.
Was zu lassen ist, sollte unterlassen werden und was zu tun ist, sollte getan werden. Und so bleibt auch dieses Jahr ganz traditionsgemäß zum Jahresende das Shakespeare-Zitat.
“Greift frisch an, oder wir treiben auf den Strand.”
William Shakespeare: Der Sturm; Zürich 1979 (1611 ), S. 22
31. Dezember 2022
Ideal - Berlin (vom Album "Ideal" 1980)
Der Song "Berlin" von Ideal (aus dem Album "Ideal" von 1980) war zweifellos geniales Aufbruchlied der einsetzenden neuen deutschen Welle. Konventionelle Rock-Musik war out und es wurde wieder deutsch gesungen - in der liebevollen Song-Analyse von Dirk von Petersdorff und Christiane Wiesenfeldt - 2018, online zu finden im FAZ-Blog - wird dies auch ausführlich gewürdigt. Dort ist zu lesen, dass die Zeit Anfang der 80er reif war, um sich auch in der Pop-Musik wieder mit Heimat und der deutschen Sprache zu beschäftigen. Die weitere Song-Analyse wandert von der musikalischen (Mischung aus Post-Punk-, New-Wave-, Rock-Elementen) über die textliche (Wahrnehmung und Beschreibung einer politisch, religiös und sozial heterogenen deutschen Gesellschaft) zur politischen Ebene (kein Anspruch mehr auf Polit-Rock) und kommt zu dem Schluss, dass der Song am ehesten ein Bekenntnis zur (Sprach-)Musik selbst wäre und immer noch beim Hörer das Gefühl der Refrain-Zeile "Ich fühl mich gut" auslösen würde.
Weshalb also noch weitere Zeilen verschwenden? Nun, weil diese Wahrnehmung meines Erachtens nur die Hälfte der und dieser "Song- und Pop-Wahrheit" trifft. Wenn es stimmt, dass guter Pop beide Seiten des Lebens zusammenklingen lässt, den bejahenden Lebensrausch und die destruktiven Impulse, die Affirmation und die Negation - der Gefühle und Verhältnisse -, das große und das kleine Ja und Nein, so tut man auch dem "Berlin"-Song Unrecht, will man ihn auf eine "Gut-Fühl-Hymne" runterbrechen.
Zunächst sei an die Zeit Anfang der 80er Jahre erinnert: Krise allenthalben; Krise der Ökonomie (Öl-Krise 73, 79), Krise der Ökologie bzw. Auftauchen der ökologischen Frage (Club of Rome 72 > Waldsterben Anfang 80er), Krise der Politik (Gewalt der RAF = Deutscher Herbst, NATO-Doppelbeschluss 79). Kein Wunder, dass die Punkbewegung Ende der 70er Jahre die Systemfrage mit dem Slogan 'No Future' beantwortete. Deshalb relevant, als dass die NDW an Punk-Musik und -Weltsicht durchaus anknüpfte. Nicht zu vergessen in diesem Zusammenhang ist auch der Status Berlins als geteilte Stadt. Wer vor dem Mauerfall West-Berlin erleben durfte, kann sich an das eigenartige Inselgefühl erinnern, das einen latenten und schizophrenen Ausnahmezustand erzeugte: auf der einen Seite ein zuweilen euphorisches Freiheitsgefühl, da geographisch und mental losgelöst von der zugehörigen Restrepublik, und auf der anderen Seite eine schwelende Drohung und Beengung, da die Stadtgrenzen zugleich Todesstreifen waren und jeder Grenzübertritt ein unangenehmes Abenteuer heraufbeschwor. Dies also der kulturell-politische Hintergrund der Zeit. Kann man ernsthaft davon ausgehen, dass damals eine Berliner Band ein Berlin-Lied mit einem ungebrochenen "Ich fühl mich gut" präsentierte? Auch der Song selbst ist in sich keinesfalls ohne Ambivalenzen. Zweifelsohne spiegelt sich im Text Lebenslust und -Energie wieder, aber ebenso die Schattenseiten der Stadt, als da wären: Alkohol, Kontrolle, Betrug, Junkie, Ruinen, Hundekot, Neonlicht. Keine Idylle, sondern eine in sich gebrochene Großstadt, weniger Bild, denn Scherbenhaufen, durch den man sich illusionslos-lustvoll und drogenaffin bewegt. Wie überhaupt der Text an die expressionistische Großstadtlyrik der 20er Jahr erinnert, ebenfalls eine unruhige Zeit. Schließlich musikalisch: tanzbare Energie verströmt der Song unbestritten, aber ebenso eine Hektik, die droht ins Hysterische umzukippen, so also ob alles unter Speed stünde und es nur noch einer kleinen Schraubendrehung bedürfte, um den Klippenrand zu überschreiten. So ist "Berlin" auch der Tanz auf dem Vulkan und das "Ich fühl mich gut" die trotzige Antwort auf die Frage, ob es denn ein richtiges Leben im falschen geben könnte.
16 Juni 2019
Funny van Dannen - Räumliche Distanz
Der Song "Räumliche Distanz" von Funny van Dannen (aus dem Album "Clubsongs" von 1995), vermittelt auf einfache Art und Weise einen wichtigen Gedanken: unsere Gefühlswelt, ja unser Leben wäre nicht auszuhalten, wenn es nicht Distanzmechanismen geben würde, die allzu Bedrängendes und Leidvolles für uns - zumindest ab und zu - auf Abstand halten würden. Denn die räumliche Distanz steht hier nicht einfach für eine physikalische Größe, die dafür sorgt, dass wir von bestimmten Dingen gar nichts wissen können, sondern bezeichnet die, zumeist unbewußte, Distanznahme selbst. Denn im Song werden die Ambivalenzen des Lebens benannt, die wir, eben weil sie in ihrer Universalität meist trivial sind, kennen dürften: man lacht, andere sind traurig. Da unser Leben aber ein umögliches wäre, würden wir permanent um jede Tragik und Ungerechtigkeit weinen, ist Distanznahme, Vergessen und auch Nichtwissen(-wollen) unumgänglich.
Andererseits muss man betonen, dass es sich keineswegs um ein reaktionäres Lied handelt, das sich dem Leid der Anderen gegenüber verhärtet. Vielmehr zeigt der Song ganz anschaulich (und musikalisch melancholisch), dass wir die Tragik des Lebens letztendlich nicht lösen können, erinnert uns aber zugleich daran, dass diese Tragik unausweichlich existiert. Dies ist der Stachel des Liedes, der so tief sitzt, dass wir beim Refrain unseren Affekthaushalt nur durch ein lautes Lachen über unser - in der Tat - 'unmögliches Leben' ins Gleichgewicht bringen können. Große Kunst die schweren Dinge leicht zu machen.